Marie-Sabine Roger – Wenn das Schicksal anklopft, mach auf


Ein neues Buch dieser wunderbaren französischen Autorin. Marie-Sabine Roger ist seit ich „Das Labyrinth der Wörter“ gelesen habe, eine meiner Lieblingsautorinnen aus Frankreich. Umso schöner, dass es nun einen neuen Roman von ihr gibt. Schon einmal rein optisch hebt er sich von den anderen bisher beim Atlantik Verlag erschienenen Romanen sehr ab. Findet ihr nicht? Nichtsdestotrotz gefällt mir dieses Cover schon einmal sehr gut.


Und darum geht es:


Harmonie ist 28 Jahre alt, lebt mit ihrem Freund Freddie zusammen und hat das Tourette-Syndrom. Wenn sie aufgeregt ist, wird sie sehr zappelig und hat nur noch wenig Kontrolle über ihre Arme und Beine. Und auch nicht über die üblen Schimpfwörter, die ihr dann aus dem Mund fallen. Ihr Freund hat sich damit abgefunden, dass ein Großteil der Wohnungseinrichtung zerstört wird und versucht sie immer zu beruhigen. Harmonie wünscht sich jedoch etwas eigenes und mehr Unabhängigkeit, weswegen sie sich auf eine Kleinanzeige für eine Putzstelle meldet.


Die Stellenanzeige aufgegeben hat Fleur, 76, eine alte Dame, die sich kaum noch aus ihrer Wohnung wagt. Ihre Angstzustände hält sie mit Unmengen von Tabletten in Schach. Und mit Besuchen bei ihrem Therapeuten Dr. Fiodor Borodine, den sie heimlich verehrt. Für die Zeit dieser Besuche wünscht sie sich jemanden, der auf ihren übergewichtigen Mops Mylord Acht gibt – obwohl sie eine Heidenangst vor Fremden in ihrer Wohnung hat. Und dann steht Harmonie bei ihr vor der Tür. Vor Schreck über diese Person, die sie beschimpft und beinahe nieder schlägt, wirft sie die Tür zu. Sie verklemmt dabei Harmonies Arm, der durch die Einbruch sichere Panzertür gebrochen wird.


Nachdem Freddie Fleur erklärt, was mit Harmonie los ist, und sie auch ein schlechtes Gewissen hat, will sie Harmonie eine Chance geben und vereinbart mit ihr einen Termin, an dem sie auf Mylord aufpassen kann. Freddie hält das für gar keine gute Idee, denn er hält Fleur für eine durchgeknallte Spinnerin. Und sowieso denkt er, dass Harmonie dieser Aufgabe nicht gewachsen ist. Wie sich zeigt, traut er Harmonie überhaupt sehr wenig zu. Als er sie mit Worten sehr verletzt, verlässt Harmonie Freddie.


Obwohl es zunächst fast unmöglich scheint: Schon bald werden Fleur und Harmonie zu ihren gegenseitigen Rettungsankern und guten Freundinnen. Und gemeinsam können sie Großes erreichen….



Meine Bewertung:


Am Anfang fällt es ein wenig schwer, mit Harmonies Erzählstil klar zu kommen, da sich in die Sätze häufig ein Wu-Ha-Ha oder Schimpfworte einschleichen. Aber daran gewöhnt man sich recht schnell.


Zunächst scheint es tatsächlich undenkbar, dass Harmonie Freddie verlässt. Er ist ihr Anker im Leben, wie die folgenden Zeilen zeigen:


„Warum mich schminken, ich bin neunundzwanzig und habe keine anderen Falten als Lachfalten, denn ich lächle und lache mit Freddie, natürlich. … Falten sind die markierten Seiten, die Eselsohren in den Augenwinkeln. Die Seiten, die das Leben in unserem Gedächtnis einprägt. Wenn Freddie wegginge, würde er all mein Lachen mitnehmen, und ich hätte nur noch meine Falten, um mich daran zu erinnern.“ (Zitat S. 44 unten, Marie-Sabine Roger „Wenn das Schicksal anklopft, mach auf“)


Umso schöner finde ich es, dass sie tatsächlich diesen Schritt geht und sich aus seinem Schatten heraus wagt. Denn endlich begreift sie, dass Freddie ihr nicht gut tut. Eine unabsichtliche Bemerkung von ihm verrät ihr, wofür er sie tatsächlich hält: Nämlich eine „Nulpe“, die nichts erreichen kann und auf ihn angewiesen ist. Das weckt Harmonies Widerstand und sie wagt sich raus aus ihrer Komfortzone. Leider wird ihre Hoffnung nicht erfüllt, dass sie bei ihrer Freundin Elvire unterkommen kann, da diese ihre Wohnung räumen muss und selbst eine Unterkunft sucht. Es bleibt ihr nur noch eine Hoffnung: Fleur, die eine große Wohnung hat…


Auch dieses Mal hat mich Marie-Sabine Roger tief berührt mit ihrer schönen Geschichte um Harmonie, Fleur, Elvire, Tonton und Aimable. Eine Geschichte um eine Freundschaft zwischen Menschen, die sich normalerweise vermutlich nie begegnet wären. Und doch führt sie das Schicksal zusammen: Eine junge Frau, die Dank ihres Tourette-Syndroms kein leichtes Leben hat, eine alte, ziemlich beleibte Frau mit großen Ängsten und einem ebenfalls übergewichtigen alten Mops, eine junge Schauspielerin mit niemals rastenden Augen, eine vorbestrafte Fischhändlerin mit Künstlerseele und ein uralter Fotograf, der heimlich wunderschöne Portraits von Menschen vor seiner Haustür aufnimmt. Das einzige, das sie auf den ersten Blick verbindet, sind ihre Macken, Ticks und Fehler. Und doch sind sie zusammen das Beste, das ihnen passieren konnte.


Ganz besonders berührt hat mich die Geschichte von Aimable Poussin, der sein ganzes Leben in der gleichen Wohnung verbracht hat (immerhin stolze 103 Jahre), der Wohnung, die vorher schon seine Eltern bewohnten. Dieser alte Herr, der Harmonie auf den ersten Blick so hässlich erscheint, hat die wunderbare Gabe, Menschen von ihrer schönsten Seite auf Schwarz-Weiß-Fotos festzuhalten. Auch Fleur, Harmonie, Elvire und Tonton werden so von ihm verewigt. Aimable ist es, der Harmonie eine neue Sicht auf sich selbst und andere gewährt. Es ist ein Glücksfall, dass sie den alten Herrn kennenlernt.



Mein Fazit zum neuen Buch von Marie-Sabine Roger:


Ich bewundere immer wieder, wie es Marie-Sabine Roger schafft, solche poetischen und schönen Geschichten zu schreiben, die im Gedächtnis bleiben. Ich lese viele schöne Romane, aber ihre Figuren sind diejenigen, an die ich mich erinnere. Nie vergessen werden ich Germain und Margueritte aus „Das Labyrinth der Wörter“, und so wird es wohl auch mit Harmonie sein, die sich geradezu ins Gedächtnis einbrennt mit ihren Wu-Ha-Has und ihren tiefsinningen Gedanken.


Wenn ihr wunderschönen Lesestoff sucht, der auch eine Botschaft mitbringt ohne aufdringlich zu sein, seid ihr bei Marie-Sabine Rogers „Wenn das Schicksal anklopft, mach auf“ definitiv richtig. Ich kann euch aber auch alle anderen Bücher von ihr sehr empfehlen, zum Beispiel „Das Leben ist ein listiger Kater“ oder „Heute beginnt der Rest des Lebens“.


Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen.


Deborah


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Vielen lieben Dank an den Atlantik Verlag für das Rezensionsexemplar. Weitere Infos zur Autorin Marie-Sabine Roger und ihren Büchern findet ihr auf der Internetseite des Atlantik Verlages.